Kompetenzraster anstatt Noten, kein Sitzenbleiben
Durch Abschaffung von Sitzenbleiben und numerischen Noten sollen bei gleichem Bildungserfolg weniger Kosten und Ausgrenzung entstehen. Fortschritt und Leistungsbild der SchülerInnen wird nicht durch Noten, sondern durch Kompetenzraster ermittelt. Das ist eine Art Tabelle, in der unterschiedliche Leistungsniveaus festgehalten sind. Jede(r) SchülerIn markiert regelmäßig, wo er/sie sich gerade befindet. (Beispiel zu finden auf https://de.wikipedia.org/wiki/Kompetenzraster). Mit Hilfe der zuständigen Lehrkraft, Coach genannt, setzt sich der/die SchülerIn Ziele, die es zu erreichen gilt. Beispielsweise soll nach ein paar Jahren geklärt werden, welche Art Abschluss der/die SchülerIn anstrebt, damit unter Berücksichtigung des individuellen Lernprozesses, die Aufgaben/Lerninhalte entsprechend festgelegt werden können. Ziffernoten werden entweder bei Abschlussprüfungen oder auf Nachfrage der Eltern vergeben. Ansonsten bekommen die SchülerInnen schriftliche Beurteilungen und wöchentlich einen Bericht vom Coach, der einen Überblick über ca. 300 Kompetenzen geben soll. Da es keine Noten gibt, entfällt auch das Sitzenbleiben, die SchülerInnen haben individuelle Zeiträume zum Erreichen eines Abschlusses.
Einwände dagegen
Dem/Der einzelnen SchülerIn wird ein hohes Maß an Selbstdisziplin abverlangt, den für sie/ihn optimalen Lernerfolg tatsächlich auch zu erzielen. Ob die besprochenen Ziele (der Theorie nach darf der Coach nichts vorschreiben, sondern lediglich ermutigen) und damit das entsprechende Leistungsniveau tatsächlich erreicht werden, bleibt in der Verantwortung des/der SchülerIn.
Fragwürdig ist die Lesbarkeit und Verständlichkeit der Beurteilungen. Müssen Eltern künftig analog zu Arbeitszeugnissen ein Handbuch zu Rate ziehen? Beispiel: Was bedeutet der Satz: „Gut, du hast dir viel Mühe gegeben!“ Heißt das etwa: „Die Aufgabe hast du zwar nicht gelöst, aber da ich sehe, dass du viel Zeit damit verbracht hast ..., lobe ich dich trotzdem“ (also wäre es im Prinzip eine Vier). Oder: „Gut, du hast die Aufgabe zielsicher gelöst“ (also eine Zwei oder gar eine Eins)? Kritiker befürchten, dass eine Bewertung, die das erzielte Ergebnis nicht in Relation zu einem Klassenziel setzt, sondern in Relation zu der durch den Lehrer subjektiv und ungeprüft wahrgenommenen Fähigkeit des Schülers, keine Aussagekraft hat.
Faire und transparente Leistungsmessung ermöglicht klare (Selbst-)Einschätzung. Wenn es keine (schlechten) Noten mehr gibt und die Gefahr sitzen zu bleiben entfällt, fehlt der Ansporn, sich anzustrengen und bessere Leistungen zu bringen. Insbesondere bei Familien bildungsferner Schichten besteht die Gefahr, dass infolge fehlender Transparenz korrigierende Maßnahmen nicht oder zu spät ergriffen werden. Zu fragen wäre auch, wie Schüler einen Schulwechsel bewältigen sollen, wenn sie die üblichen Lernformen nicht mehr kennen.
Einzelne Kinder können den ganzen Unterricht durch fehlende Motivation und auffälliges Verhalten kippen. Wie das aussehen kann, kann man sich am Beispiel einer Stadtteil-Schule in Hamburg (in BW „Gemeinschaftsschule“) anschauen: (https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2013/panorama4651.html)
Kinder mit verschiedenen Fähigkeiten und Bedürfnissen werden in einem Raum zusammengefasst, doch bildet sich daraus keine Gemeinschaft, denn sie werden zu vereinzelten Lernplanbewältigern isoliert. "Individuell" ist nur das Tempo und die Reihenfolge, in der die normierten Lernpakete abgearbeitet werden. Vor dem Kompetenzraster sind alle Schüler gleich wenig individuell. Auch die moralische Überhöhung von sogenannten kooperativen Lernformen, bei denen die Leistungsstarken mit "Könner"-Anstecker am Revers den Schwächeren als Hilfslehrer zur Seite gestellt werden, kann nicht darüber hinweg täuschen, dass die "Neue Lernkultur" Gemeinschaft nur instrumentell und funktional versteht - nicht als immer schon vorhandener und zugleich pädagogisch zu gestaltender Grund von Bildung (aus: https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2013/05/burchardt_krautz_neue_lernkultur.pdf).